Gehölze – Wildgehölze – Mistel

Ritische und medizinische Aspekte der Misteln

Autor: Gregor Dietrich

In England nehmen Misteln der Gattung Víscum im Weihnachtskult seit jeher eine wichtige Stellung ein – als Rest keltischer Kultur, der über Jahrhunderte in der christlichen Kultur assimiliert wurde. Bei uns werden Misteln auch immer häufiger als winterlicher Raumschmuck verwendet.

Aus dem Englischunterricht wissen wir, daß Paare, die sich am Weihnachtsabend unter einem Mistelzweig küssen, innerhalb eines Jahres heiraten werden. Wer sich mit Zauberpflanzen beschäftigt, stößt immer wieder auf die Mistel. Ihre Bedeutung für die Kelten wird in den Asterix-Comics natürlich etwas verzerrt dargestellt. Das Klischee vom Druiden, der mit der goldenen Sichel Misteln schneidet wird hier betont. Tatsächlich waren, wie uns Plinius der Ältere berichtet, auch andere Pflanzen von ebensolcher kultischen Bedeutung. Bärlapp (Lycopódium) durfte z.B. erst nach Reinigung des Druiden und einem Opfer geerntet werden. Der Druide mußte ihn bloßfüßig in weißem Gewand ohne Metall abschneiden, wobei die rechte Hand unter der linken durchgeführt wurde, "wie Diebe es machen". Die Salzbunge (Sámolus) wurde mit der linken Hand geerntet, sofort nach Hause gebracht und dort gelagert, "wo man die Getränke aufbewahrt".

Der Ritus bei Misteln verlief in etwa so: Am 6. Tag nach Neumond, wenn der Mond eine schöne Sichel bildet, zieht eine vom Druiden geleitete Prozession los. Gleich hinter ihm werden zwei Opfertiere geführt. Schließlich bildet die Menge einen Kreis um die vom Druiden ausgewählte Eiche. Die gesuchte Laubholz-Mistel (Víscum álbum) ist nur selten auf Eichen zu finden. Während der Druide Gebete singend mit seiner Goldsichel Misteln schneidet, die ohne weitere Berührung in ein weißes Tuch fallen, werden die Tiere geopfert.

Für die Gallier kamen diese sonderbaren Gewächse, die keine Verbindung zum Boden haben, aus einem anderen Universum, nämlich dem der Götter und Verstorbenen. Die im Winter auf scheinbar toten Ästen sitzende immergrüne Laubholz-Mistel (Víscum álbum) war ein Symbol für das Jenseits: Tod bringt Leben hervor. Ihrer Giftigkeit wegen waren Misteln bei den mittelalterlichen Alchimisten beliebt und wurden als Heilpflanzen gegen Epilepsie und Lungenblutungen, zur Blutdrucksenkung oder als Narkotikum eingesetzt. In neuerer Zeit sind sie in der Krebstherapie wichtig geworden. In der griechischen Mythologie wird die Mistel wegen ihrer narkotisch-psychoaktiven Eigenschaften erwähnt: Wahrscheinlich ist sie die "Goldene Zauberrute" des Äneas, der mit ihrer Hilfe in die Unterwelt eindrang. "Besuche in der Unterwelt" sind im Allgemeinen als Einfluß psychoaktiver Drogen zu deuten. In den germanischen Sagen tötet der blinde Wintergott Hödur unbeabsichtigt durch eine List des Loki seinen Bruder, den Sommergott Balder mit einem Mistelspeer. Im allgemeinen sollen Mistelzweige aber Böse Geister vertreiben.

Die Fähigkeit ohne Bodenkontakt zu wachsen erklärt sich im Schmarotzertum der Misteln. Sie senden Senkerwurzeln in Rinde und Holz. Diese dienen einerseits der Verankerung, andererseits zapfen sie mit sogenannten Haustorien die Leitungsbahnen der Wirtspflanze an. Im Gegensatz zu Sommerwurz (Orobánche), Schuppenwurz (Lathráea) und Teufelszwirn (Cúscuta) sind sie keine Vollschmarotzer, die selbst keine Photosynthese betreiben und sich ausschließlich auf Kosten des Wirtes ernähren, also dessen zum Wachstum benötigte Assimilate (Kohlehydrate) "stehlen", sondern Halbschmarotzer, die der Wirtspflanze lediglich das aus den Wurzeln Richtung Blätter gepumpte Wasser mit seinen Nährsalzen entziehen und selbst assimilieren. Dadurch wird der Wirt kaum geschwächt und erst bei Massenbefall geschädigt. Lediglich für die Holzindustrie sind die durch die Senkerwurzeln entstehenden Löcher mitunter ein Schaden. Übrigens sind nicht alle auf Bäumen wachsenden Pflanzen Schmarotzer. Die Epiphyten, zu denen viele Orchideen und Bromelien gehören, wachsen auf Bäumen um an mehr Licht zu kommen. Ihre Wurzeln klammern sich aber nur an der Rinde der Bäume an ohne zu schmarotzen. Um dennoch zu Nährstoffen zu kommen, haben sie oft nest- oder trichterförmigen Wuchs, so daß Fallaub, Vogelkot und andere "Abfälle" gesammelt werden, die bei ihrer Verrottung Nährstoffe freisetzen.

Wie die meisten Arten der Familie der Lorantháceae kommen auch die meisten der etwa 70 Mistel-Arten der Gattung Víscum in den Tropen vor. Im Wiener Raum ist die Laubholz-Mistel (Víscum álbum) häufig anzutreffen. Sie ist auf den meisten Laubbaumarten zu finden, meidet jedoch Eichen und fehlt auf Buche und Nadelbäumen. Sie schmarotzt aber auch an anderen Mistelarten, so kann dann der Eindruck entstehen, sie würde auf Eichen oder Koniferen wachsen. Sie ist die einzige Art mit rein weißen Beeren und weißen Samen.

Die ähnliche Tannen-Mistel (Víscum abiétis) ist auf Tannen beschränkt und hat, wie auch die nächste Art, grünlich- bis gelblichweiße Beeren mit grünlichen Samen. Die Föhren-Mistel (Víscum láxum) fällt durch ihre gelblichgrüne Färbung (vielleicht war sie die "Goldene Zauberrute" des Aeneas) und durch die kleinen schmalen Blätter auf. Sie lebt auf Kiefern, geht aber auch auf Fichten und kann künstlich auch auf Zedern und Lärchen gezogen werden. Für die Forstwirtschaft ist sie nicht schädlich, da sie nur an den dünneren Kronenästen wächst.

Im südlichen Mittelmeergebiet findet man das rotbeerige Víscum cruciátum auf Ölbaum, Mandeln, Edelkastanie, Pappeln und anderen Gehölzen. In Europa findet man es nur in Kalabrien und Andalusien.
Die Eichenmistel oder Europäische Riemenmistel (Loránthus europaeus) wirft ihr Laub im Winter ab. Außerdem hat sie gelbe Beeren, aus denen Vogelleim hergestellt wurde. Sie besiedelt Eichen, bevorzugt Flaum- und Zerr-Eichen (Quércus pubéscens s.l. und Qu. cérris), aber auch Edelkastanien. Die Gattung Loránthus mit ca. 500 Arten ist übrigens ebenfalls vorwiegend in den Tropen verbreitet.

Wer im Garten Misteln ziehen will, klebe die "selbstklebenden" Samen mit der Breitseite an die betreffenden, mindestens fingerdicken Äste, auch Sträucher sind geeignet. Sollten sie durch Vögel zu stark auftreten, sollte man aber möglichst schnell Druide spielen.