Hamburger Manifest der Projektgruppe Stadtnatur

Mit einem Hamburger Manifest zur Stadtnatur wendet sich die im vorigen Jahr gegründete Projektgruppe Stadtnatur Hamburg an die Öffentlichkeit, um auf die seit Jahren andauernde, massive Naturzerstörung in Hamburg durch Grünflächenverbrauch und Ausräumung der Stadtvegetation aufmerksam zu machen.
Unter Verweis auf deutsche und internationale Gesetze, Regierungsbeschlüsse und Übereinkommen legt die Projektgruppe in ihrem Manifest dar, dass wichtige Grundsätze des Natur- und Landschaftsschutzes ebenso wie fundamentale Bedürfnisse der Einwohner nach Gesundheit und Wohlbefinden von der Hamburger Stadtpolitik nicht beachtet werden.
„Indignez-vous! – Empört auch!“ Diesen Aufruf des ehemaligen, französischen Widerstandskämpfers und späteren UN-Diplomaten Stéphane Hessel gegen eine verfehlte, von der „Macht des Geldes“ beherrschte Politik greift die Projektgruppe Stadtnatur auf, um die Hamburger zum friedlichen Aufstand gegen die Natur zerstörende Stadtpolitik zu ermutigen.

ProStadtnatur Hamburg
ProStadtnatur Hamburg

Textdokumentation des Hamburger Manifestes der Projektgruppe Stadtnatur
Die Naturzerstörung in Hamburg durch Grünflächenverbrauch und Ausräumung der Stadtvegetation hat in den letzten Jahren ein Ausmaß erreicht, das viele Bürger nicht mehr hinnehmen wollen. Die große Zustimmung zu Bürgerbegehren, die sich für die Erhaltung der Stadtnatur in Hamburg einsetzen, lässt erkennen, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen einen Schutz ihres Grüns vor weiterer Zerstörung befürwortet. Um diesen Bürgern hilfreiche Sachinformationen und ein Forum für Diskussion und Planung zu bieten, hat sich im Internationalen Jahr der Biologischen Vielfalt 2010 die PROJEKTGRUPPE STADTNATUR HAMBURG gegründet. Sie wendet sich gegen die zunehmende ökologische Entwertung des öffentlichen Raums in Hamburg zu Lasten der Gesundheit, des Wohlbefindens und der Lebensfreude der Menschen in der Stadt.

Naturzerstörung in Hamburg: zum Schaden der Menschen

Hamburg treibt Raubbau an seiner Natur. Der Verbrauch von Grün- und Freiflächen hat sich im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Jährlich wird im Mittel die zweifache Fläche der Außenalster bebaut und versiegelt. In jedem Jahr verliert Hamburg mehrere tausend Bäume, die ersatzlos gefällt werden. Verbleibende Bäume werden durch meterhohes
Auf-Asten verstümmelt und geschädigt. Große Teile der natürlichen Strauch- und Krautvegetation öffentlicher Grünflächen sind bereits systematisch ausgeräumt worden. Zurück
bleiben totgepflegte, durchsichtige Parks und kahlgeschorene Straßenrandstreifen. 14 Prozent der ehemals in Hamburg vorkommender Pflanzenarten sind hier inzwischen
ausgestorben. Mehr als die Hälfte der verbliebenen Arten sind gefährdet oder vom Aussterben bedroht [1]. Mit jeder vernichteten Pflanzenart verlieren zahlreiche wirbellose
Tierarten ihre Lebensgrundlage. Viele stadtbewohnende Wirbeltiere, wie Vögel und Fledermäuse, werden so ihrer Nahrungsquellen und ihrer Lebensräume beraubt. Bei anhaltender Klimaerwärmung droht eine Stadt mit immer weniger Grün in heißen Sommern zur tödlichen Hitzefalle zu werden [2]. Gesundheit und Lebensqualität der Menschen stehen auf dem Spiel.

Naturzerstörung in Hamburg – gegen Gesetze und internationale Abkommen

Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere, heißt es in Artikel 20a des deutschen Grundgesetzes [3]. Und das Bundesnaturschutzgesetz [4] sagt es ausführlicher in § 1 Absatz 1: Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen im besiedelten und unbesiedelten Bereich … so zu schützen, dass
1. die biologische Vielfalt,
2. die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts … sowie
3. die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind.

In Berichten und Beschlüssen der deutschen Bundesregierung wird die Bedeutung von Natur und Naturschutz in der Stadt – auch und gerade für die Menschen – immer wieder
hervorgehoben, etwa in der 2007 beschlossenen Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt [5], wo es heißt: In vielen Stadtbereichen fehlt ausreichend Grün, das von den Menschen genutzt werden und als Lebensraum für Arten dienen kann. … Fehlende Vegetation und versiegelte Böden verschlechtern das Stadtklima und die Luftqualität und wirken sich negativ auf den Wasserhaushalt aus. … Je stärker die Begrünung der Innenstädte, desto mehr Stäube und Schadstoffe werden auf natürlichem Wege aus der Luft gefiltert. … Je größer der Umfang einer Grünfläche, desto größer ist auch die klimatologische Reichweite. … Eine gute Erreichbarkeit und Vernetzung von Grünflächen ist entscheidend für die Nutzbarkeit und erhöht die Attraktivität der Innenstädte. Dies trägt dazu bei, den flächenintensiven Wegzug ins Umland aufzuhalten und das Verkehrsaufkommen zu reduzieren. …
Die biologische Vielfalt bestimmt maßgebend das Erleben von Natur und Landschaft. …
Naturerfahrung und -erlebnis sind wichtige Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung. Positive Naturerfahrungen stärken das Lebensgefühl, schulen die sinnliche Wahrnehmung und das ästhetische Empfinden, vermindern Aggressivität, fördern Aufmerksamkeit, Konzentration und Wahrnehmungsfähigkeit sowie die Ausbildung motorischer Fähigkeiten. … Kinder brauchen Naturerfahrungsräume für eine gesunde psychische und physische Entwicklung.

Während in Hamburg das Grünvolumen und der Anteil unversiegelter Flächen ohne Rücksicht auf die biologische Vielfalt fortlaufend dezimiert wird, setzte die Bundesregierung in
ihrem Bericht zur Lage der Natur 2009 [6] ganz andere Ziele:
• Bis zum Jahre 2020 ist die Durchgrünung der Siedlungen einschließlich des wohnumfeldnahen Grüns … deutlich erhöht.
• Bis 2020 [ist] die Inanspruchnahme neuer Siedlungs- und Verkehrsflächen auf höchstens 30 ha pro Tag zu verringern [also auf etwa ein Viertel des bisherigen Wertes!]
• Entwicklung einer Strategie zur vorbildlichen Berücksichtigung der Biodiversitätsbelange für alle Flächen der öffentlichen Hand bis 2010.

Anders als Hamburg orientiert sich die Bundesregierung dabei vertragsgemäß an internationalen Abkommen, wie den Beschlüssen der Konferenz der Vereinten Nationen über
Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 (UNCED), insbesondere 1. dem Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert (Agenda 21) [7], mit dem Ziel einer Natur und Ressourcen schonenden, nachhaltigen Entwicklung, sowie 2. dem Biodiversitäts-Abkommen (CBD) [8], mit dem Ziel der Erhaltung der biologischen Vielfalt.

Im Mittelpunkt dieser Abkommen stehen akute, menschheitsbedrohende Naturkrisen:
• der weltweite rapide Rückgang der biologischen Vielfalt durch Zerstörung von Lebensräumen und Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten;
• die menschengemachte globale Erwärmung, Auslöser einer dramatische Beschleunigung des Artensterbens bis hin zum völligen Kollaps von Ökosysteme mit schwerwiegenden Folgen auch für dort lebende indigene Völker;
• die einsetzende Erschöpfung der fossilen Rohstoffvorräte und die durch den Anbau nachwachsender Rohstoffe verursachte Vernichtung ausgedehnter Naturäume und ihrer Organismen.

Die sich beschleunigende, endgültige Ausrottung großer Teile der irdischen Lebewelt – die sich über Jahrmillionen entwickelt hat und unersetzlicher Bestandteil der menschlichen
Umwelt ist – stellt derzeit die vordringliche Herausforderung jeder verantwortungsvollen, nachhaltigen Politik dar, will man nicht die Lebensgrundlagen künftiger Menschengenerationen leichtfertig aufs Spiel setzen [9].

Die Hamburger Politik des aggressiven Wachstums, des unmäßigen Flächenverbrauchs und der rücksichtslosen Naturzerstörung wird diesen globalen Herausforderungen nicht
gerecht.

Naturzerstörung in Hamburg: EMPÖRT EUCH!
Angesichts der drohenden globalen Katastrophen haben alle, die genauere Kenntnisse über das Ausmaß der Bedrohung haben, eine besondere, historische Verantwortung, ihr
Wissen für das Gemeinwohl einzusetzen und einer ökologisch verhängnisvollen Politik entgegenzutreten.
Die PROJEKTGRUPPE STADTNATUR HAMBURG will einen Politikwechsel im Umgang mit der Natur in unserer Stadt herbeiführen. Sie will die Bevölkerung über das wahre Ausmaß der Naturzerstörungen informieren und Strategien dafür entwickeln, wie Hamburg wieder zu einer naturfreundlichen Stadt werden kann.
Die Projektgruppe Stadtnatur will untersuchen und öffentlich machen, welche Personen, Institutionen, Konzepte und Regelwerke für die jahrelange und anhaltende Naturzerstörung in Hamburg verantwortlich waren und sind. Sie will dokumentieren und quantifizieren, wo und wie viel Grünvolumen in Hamburg vernichtet wurde und wird. Die Projektgruppe will die Geldquellen und Profiteure ermitteln und offen legen, mit denen die Naturzerstörung in Hamburg betrieben wird. Sie will Gesetzesbestimmungen und Verwaltungsvorschriften daraufhin überprüfen, inwieweit sie die Naturzerstörung zulassen oder ihnen entgegenstehen. Die Projektgruppe wird alle Möglichkeiten der Informationsbeschaffung nutzen und Experten befragen und zur Mitarbeit ermuntern. Sie will analysieren, aufklären und überzeugen. Sie will Konzepte entwickeln und veröffentlichen, die zu einem angemessenen Umgang mit der Stadtnatur in Hamburg beitragen können.

Indignez-vous! – Empört auch! So überschrieb der ehemalige, französische Widerstandskämpfer und spätere UN-Diplomat Stéphane Hessel [10] vor kurzem seinen Aufruf zur politischen Neubesinnung und zum friedlichen Aufstand gegen eine verfehlte Politik unter der Macht des Geldes, die niemals so groß, so anmaßend und egoistisch war wie heute und bis in die höchsten Ränge des Staates hinein über eigene Diener verfügt. Hessel fordert einen radikalen Bruch mit dem Drang nach „immer mehr“ … Denn sonst drohen äußerst große Gefahren. Sie können den Planeten Erde für den Menschen unbewohnbar machen.
Der Drang nach „immer mehr“ kennzeichnet auch die Politik des aggressiven Natur- und Flächenverbrauchs in Hamburg. „Empört Euch!„, ein solcher Aufruf erscheint da längst überfällig. Denn – so Hessel – dies ist eine der wesentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empörung und das Engagement, das daraus erwächst.

Die Projektgruppe Stadtnatur Hamburg trifft sich regelmäßig am zweiten Mittwoch jedes Monats um 19 Uhr im Bürgertreff Altona-Nord in der Gefionstraße 3.
Internetpräsenz: www.isebek-initiative.de

Verwendete Schriften:
1. Der Hamburger Pflanzenatlas von a bis z. – Von Hans-Helmut Poppendieck, Horst
Bertram, Ingo Brandt, Barbara Engelschall und Jörg von Prondzinski (Hrsg.). Dölling
und Galitz Verlag, München und Hamburg 2010.
http://www.bg-web.de/botanischerverein/bv_publikationen_detail.php?pmID=787

2. Hitze-Sommer 2003 hat 70.000 Europäer getötet. – Artikel im „Spiegel“ vom
23.3.2007.
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,473614,00.html

3. Grundgesetz-Artikel 20a: Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere.
http://bundesrecht.juris.de/gg/art_20a.html

4. Bundesnaturschutzgesetz, § 1: Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege.
http://bundesrecht.juris.de/bnatschg_2009/__1.html

5. Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt. Herausgegeben vom Bundesministe-
rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU). Berlin, Oktober 2007.
http://www.cbd.int/doc/world/de/de-nbsap-01-de.pdf

6. Bericht der Bundesregierung zur Lage der Natur für die 16. Legislaturperiode,
Stand: Februar 2009. Hrsg.: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit (BMU), Berlin.
http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/bericht_lage_natur_lp_16_bf.pdf

7. Agenda 21, ein entwicklungs- und umweltpolitisches Aktionsprogramm zur
nachhaltigen Entwicklung für das 21. Jahrhundert, beschlossen von 172 Staaten auf
der Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (UNCED) in Rio
de Janeiro im Juni 1992.
http://www.un.org/Depts/german/conf/agenda21/agenda_21.pdf

8. Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity
CBD), beschlossen auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten
Nationen (UNCED) in Rio de Janeiro am 5. Juni 1992.
http://www.biodiv-chm.de/konvention/F1052472545/HTML_Page1049896418

9. Vilmer Thesen zu Grundsatzfragen des Naturschutzes. – BfN-Skripten, Band 281;
Bonn – Bad Godesberg (Bundesamt für Naturschutz)
http://www.bfn.de/fileadmin/MDB/documents/service/Skript_281.pdf

10. Stéphane Hessel: Empört Euch!. Ullstein, Berlin 2010 (Originaltitel: Indignez-vous !,
übersetzt von Michael Kogon), ISBN 978-3-550-08883-4.
Zitiert in: Stéphane Hessels Pamphlet „Empört euch!“. – Frankfurter Allgemeine
FAZ.NET vom 1. Februar 2011.
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EC1B6D3F1EB1945319B3E90D326B4D0EF~ATpl~Ecommon~Scontent~Afor~Eprint.html